Es ist der Morgen des 25. September 2017: Der gräulich-diffuse Himmel über Berlin spiegelt in etwa die bundespolitische Stimmungslage am Tag nach der Wahl zum 19. Bundestag wieder. Zum vierten Mal in Folge hat die Union aus CDU und CSU deutlich gesiegt, musste dabei aber starke Stimmenverluste hinnehmen. Mit 33 Prozent schnitten die Konservativen so schlecht ab wie seit 1949 nicht mehr. Noch düsterer ist die Stimmung bei der SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz: Gerade mal 20,5 Prozent der Stimmen konnten die Sozialdemokraten holen, ihr schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegszeit. Noch am Wahlabend kündigten mehrere Mitglieder der Parteispitze an, dass man für keine weitere Große Koalition zur Verfügung stehe und stattdessen in der Opposition an Profil zurückgewinnen wolle.
Schwierige Regierungsbildung: Dämpfer für die Märkte?
Momentaufnahme: Bundestagswahl
Die Bundestagswahl am 24. September schien berechenbar, doch das Ergebnis ernüchtert: Angela Merkel hat zwar die Wahl gewonnen, doch die Große Koalition wurde abgestraft. Besser als erwartet schnitten dagegen die Rechtspopulisten von der AfD ab. Zurück im Bundestag ist die FDP. Das neue Sechs-Parteien-Parlament macht die Regierungsbildung schwierig. Eine Momentaufnahme aus dem September 2017.
SPD macht Weg frei für Große Koalition
Zwei Anläufe und ein halbes Jahr hat es gedauert, eine neue Regierung zu bilden. Zum Glück aber zeitig genug, um in neuer Formation wichtige Entscheidungen herbeizuführen. Doch andere Länder haben uns mittlerweile in puncto Reformwillen überholt. Dabei braucht auch Deutschland dringend Weichenstellungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum jenseits der kurzfristigen Sicht. Eine detaillierte Analyse der Lage lesen Sie hier.
Zum ersten Mal zog dagegen die zwischen rechtem Populismus und konservativem Pragmatismus oszillierende AfD in den Bundestag ein – und etablierte sich mit 12,6 Prozent als drittstärkste Kraft. Wie schon im Wahlkampf sorgte die Parteiführung auch nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen mit scharfen Tönen gegen Angela Merkel und die Bundesregierung für Aufsehen. Fraglos bedeutet der Einzug einer Partei „rechts von der Union“ in den Bundestag eine Zäsur – wohl auch in Sachen Parlamentskultur. Wie sich die Stimmung auf der Straße durch die politische Polarisierung verändern könnte, wurde noch am Wahlabend deutlich, als rund 1.000 Protestierer die Wahlparty der AfD in Berlin belagerten. „Das ist schon ein dicker Denkzettel für die großen Parteien“, sagt Oliver Postler, Chief Investment Officer bei der HypoVereinsbank.
Gejubelt wurde nach der Wahl auch anderswo: Den souveränen Wiedereinzug schaffte die FDP (10,7 Prozent) mit ihrem Spitzenkandidaten Christian Lindner. Leicht über den Erwartungen schnitten auch die Grünen und die Linke ab. Der Bundestag ist nun vielfarbiger geworden, zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte sind sechs Parteien mit Fraktionsstärke im Parlament vertreten. Das macht aber auch die Regierungsbildung schwieriger: Bleibt die SPD bei ihrem „Nein“ zu einer Neuauflage der Großen Koalition, bliebe Angela Merkel nur die „Jamaika“-Option mit der FDP und den Grünen. Diese Koalition birgt jedoch erhebliches Konfliktpotenzial. Der Idee einer Minderheitenregierung, die Mehrheiten dann situativ organisieren müsste, erteilte Merkel zumindest am Wahlabend eine Absage.
Das ist schon ein dicker Denkzettel für die großen Parteien.“
Gleichzeitig muss eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen kein Hindernis für Wirtschaftswachstum sein. „Das Beispiel Baden-Württemberg zeigt ja, dass die Grünen durchaus pragmatisch regieren können“, sagt Klaus Sers, Investment-Stratege und Portfolio-Manager bei der HypoVereinsbank. Auch eine erneute Große Koalition dürfte von den Anlegern positiv aufgenommen werden.
Was aber bedeutet dieses Ergebnis für die Anleger? Blickten die in den vergangenen Wochen eher entspannt in Richtung Bundestagswahl, so trübt nun die Aussicht auf eine lange politische Hängepartie den Horizont ein. Nachdem die politischen Entscheide in Paris und in Den Haag die liberalen, europafreundlichen Kräfte gestärkt hatten, schnitten die Populisten in Deutschland nun stärker ab als erwartet. Dabei profitierten sie vom angewachsenen Protestpotenzial im Land. Eine Rolle spielten wohl auch digitale Hacker- und „Bot“-Attacken in den sozialen Netzwerken, die zum Beispiel aus Russland orchestriert wurden, wie mehrere Medien berichteten.
Rückenwind für das europäische Projekt
Andererseits werden sich die Anleger wohl darauf verlassen können, dass unter einer erneuten Kanzlerschaft Angela Merkels nach wie vor Kontinuität, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit regieren. Noch kurz vor der Wahl machte die Kanzlerin ihre Entschlossenheit deutlich, unabhängig von möglichen Koalitionspartnern auch weiterhin eine aktive und gestaltende Rolle in Europas Wirtschafts- und Finanzpolitik einzunehmen. So brachte Merkel das Auflegen eines neuen Fördertopfs ins Spiel, um EU-Länder bei Wirtschaftsreformen zu unterstützen. Das Projekt einer weiteren europäischen Integration erhält durch die Erneuerung der Partnerschaft zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron paradoxerweise weiteren Rückenwind – für Anleger ein gutes Zeichen angesichts der Herausforderungen, die sowohl auf europa- als auch geopolitischer Ebene herrschen.
So könnte selbst der sonst eher schwache September zu einem guten Anleger-Monat geadelt werden. „Nach zwei Monaten der Konsolidierung an den Aktienmärkten könnte die Wahl das Signal für eine Rallye an den Märkten geben“, sagt Sers. Als Wermutstropfen bezeichnet der Experte die Tatsache, dass unter Angel Merkel keine anspruchsvollen Reformvorhaben umgesetzt wurden – und davon auch nach der Bildung einer neuen Regierung eher nicht auszugehen sei. So bestehe an den Finanzmärkten vor allem die Sorge, dass die auf Deutschland zurollenden demografischen Probleme der Zukunft – Stichwort Renteneintrittsalter – nicht angepackt würden.
Die wirtschaftlichen Rahmendaten dagegen dürften Anleger zweifelsohne genauso freudig stimmen wie Wahlkampfstrategen der Union: Die Arbeitslosenquote hat einen rekordverdächtigen Tiefstand erreicht, der Export brummt. Die Deutsche Bundesbank hat ihre Wachstumsprognose für 2017 auf 2,0 Prozent erhöht. Selbst die skandalgebeutelte Autobranche, Treiber der deutschen Wirtschaft, überzeugte erst kürzlich mit starken Halbjahreszahlen. Zudem ist die Stimmung bei Unternehmern wie Verbrauchern im Land so gut wie selten zuvor, die Inflation bleibt moderat. In Summe haben diese Faktoren dafür gesorgt, dass die wirtschaftliche Entwicklung 2017 die Erwartungen der Analysten übertraf – und damit auch als Treiber für die Aktienmärkte diente.
Tatsächlich sind die geopolitischen Risiken schwer zu kalkulieren.“
Für Unsicherheit sorgt derzeit vor allem die geopolitische Lage: Während der Ton in den Brexit-Verhandlungen an Schärfe zunimmt, hat sich seit dem Sommer 2017 an den Südgrenzen Europas die Flüchtlingskrise mit Nachdruck in Erinnerung gerufen. Der Streit um die Verteilung der Flüchtlinge stellt den politischen Frieden in der EU auf eine Belastungsprobe, zudem werden die fiskalisch bereits angeschlagenen Länder der südlichen Peripherie weiter belastet.
In den USA setzt Präsident Trump derweil seinen irrlichternden politischen Kurs fort – bislang jedoch ohne nennenswerte Ergebnisse und ohne negative Folgen für die Märkte. Der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un hält die Welt weiter mit Raketen- und Atombombentests in Atem, während der Syrien-Konflikt unlösbar scheint. „Tatsächlich sind die geopolitischen Risiken schwer zu kalkulieren“, sagt Klaus Sers. „Gleichwohl sind die größten Risiken bereits bekannt und von den Märkten berücksichtigt.“
Und was bedeutet das alles nun für Anleger? Laut den HVB-Experten sollten sie im Umfeld der Bundestagswahl keine plötzliche Änderung ihrer Anlagestrategie vollziehen, sondern in Bezug auf ihr Portfolio eine Politik der ruhigen Hand walten lassen. „Ich gehe davon aus, dass mindestens bis ins Jahr 2018 hinein Aktien die bevorzugte Anlageklasse im Portfolio bleiben dürften“, so Sers. Es lohne sich aber stets, einen kurzen Draht zu seinem Berater zu haben, um bestens informiert zu bleiben – und auch in der Zeit bis zur Bildung einer neuen Regierung auf alle Szenarien vorbereitet zu sein.